Sensible Schnittstelle zwischen Bürger und Justiz

Die Rechtsantragstelle - sensible Schnittstelle zwischen Bürger und Justiz - im Wandel des Fortschritts: moderne Informationstechnik soll den Service für Rechtsuchende optimieren.

Montagmorgen, 7.45 Uhr. Diplom-Rechtspflegerin Rosenthal ist gerade damit beschäftigt, sich einen überblick über die neuen Akteneingänge zu verschaffen, als jemand zaghaft an ihre Bürotür klopft. Eine Frau mittleren Alters öffnet vorsichtig die Tür und tritt verunsichert vor den Schreibtisch der Justizbeamtin; noch bevor diese ein freundliches "Bitte nehmen Sie doch Platz!" aussprechen kann, sprudelt es aus der Besucherin nur so heraus: Sie begriffe nicht, wie es so weit kommen konnte. überhaupt verstehe sie vieles nicht von dem, was in den letzten Wochen vom Vermieter, seinem Rechtsanwalt und zuletzt vom Gericht geschrieben worden sei. Ihr Mann sei schon seit Monaten arbeitslos, das wisse schließlich jeder. Und allein von ihrer wenig einträglichen Heimarbeit könnten sie die Miete eben nicht bezahlen. Sechs Monate Rückstände, ja, so lange ginge das schon. Und nun gäbe es da dieses Schreiben, nach dem ihre Wohnung zwangsgeräumt werden solle.

Die Besucherin hält Rechtspflegerin Rosenthal ein zerknittertes Schriftstück hin, bei dem es sich unzweifelhaft um ein Räumungsurteil handelt, außerdem ein weiteres Schreiben - die Mitteilung des Gerichtsvollziehers zur Zwangsräumung mit dem Räumungstermin: morgen, am Dienstag, um 7.00 Uhr.

Die Rechtspflegerin weiß, dass Fragen wie "Warum kommen Sie erst jetzt?" und dergleichen in einem solchen Fall nicht weiterhelfen. Statt dessen erkundigt Sie sich gezielt nach dem genauen Verlauf des bisherigen Geschehens und danach, ob sich die Familie Schmidt - inzwischen hat sich herausgestellt, dass es neben dem Ehemann der Besucherin noch zwei minderjährige Kinder gibt - um eine Ersatzwohnung bemüht habe. Nein, das habe man nicht, weil niemand davon ausgegangen sei, dass es wirklich soweit kommen könnte...

Ein Telefonat mit dem Ordnungsamt ergibt, dass für Familie Schmidt eine angemessene Wohnung bereitgestellt werden kann, bis eine dauerhaft neue Bleibe gefunden ist. Jetzt wird es besonders ernst für die Justizbeamtin: Sie erläutert im Einzelnen die Voraussetzungen des § 765a ZPO und die sich für diesen Fall daraus ergebende Konsequenz - sie werde den Antrag auf Gewährung von Räumungsschutz zwar aufnehmen, die Erfolgsaussicht sei, da eine geeignete Ersatzwohnung bereitstehe, jedoch sehr gering. Die Antragstellerin müsse sich darauf einstellen, dass die Wohnung morgen um 7.00 Uhr vom Gerichtsvollzieher geräumt werde und Familie Schmidt in die andere Wohnung umziehen müsse.

Die Besucherin bricht in Tränen aus. Ihre Bestürzung und Verzweiflung sieht man ihr gleichermaßen an. "Das ist doch unser Zuhause, wir wohnen seit zehn Jahren dort. Ich will nicht woanders hin - sonst ... bringe ich mich um!"

So manches Mal hat die Rechtspflegerin diesen Satz gehört, der meist nicht mehr als eine leere Drohung war. Doch als Frau Schmidt erzählt, dass sie wegen ihrer schwachen Nerven schon seit längerem in ärztlicher Behandlung sei und der Arzt beim Anruf den äußerst labilen Zustand seiner Patientin bestätigt und ein bereits mehrere Selbstmordversuche bescheinigendes Attest an das Gericht faxt, weiß die Beamtin, wie sie hier zu handeln hat.

Sie nimmt den Räumungsschutzantrag auf und stellt wegen drohender Suizidgefahr die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsurteil ein. Noch während sie die Gründe formuliert, weiß sie, dass sie sich spätestens morgen mit einem wütenden Vermieter oder dessen Anwalt auseinanderzusetzen hat...

 

Solche und ähnliche Fälle spielen sich nahezu täglich bundesweit auf den Rechtsantragstellen der Amtsgerichte ab.

Rechtsantragstellen sind der Anlaufpunkt für vielerlei Rechtsbegehren des Bürgers: Anträge auf Erteilung von Berechtigungsscheinen für die Beratung durch einen Anwalt, Kostenfestsetzungsanträge, Ehelichkeitsanfechtungen, Anträge auf änderung des Sorgerechts für Kinder geschiedener Eheleute, Berufungen, Beschwerden, einstweilige Verfügungen wegen Mietstreitigkeiten und vieles mehr.

Betrachtet man allein die vorgenannten Angelegenheiten des damit noch lange nicht vollständigen Zuständigkeitenkatalogs, wird deutlich, welche wesentlichen Aufgaben die Rechtsantragshilfe erfüllt. Hier werden an die Justizverwaltung im allgemeinen und an die persönliche und fachliche Kompetenz des mit diesen Aufgaben betrauten Rechtspflegers im besonderen erhebliche Anforderungen gestellt.

Die Justiz wirkt durch die Rechtsantragshilfe in die öffentlichkeit hinein, ihr Erscheinungsbild und ihr Ansehen wird hier wesentlich geprägt. Der auf diesem Gebiet tätige Rechtspfleger wird gegenüber dem Bürger, der ein Verfahren einleiten oder auf ein laufendes Verfahren einwirken möchte, zu einem Repräsentanten der Justiz besonderer Art.

Hierbei ist bemerkenswert, dass die Justiz durch die Rechtsantragshilfe nicht lediglich eine Dienstleistungseinrichtung zur Verfügung stellt, sondern im Rahmen des Rechts- und Sozialstaatsprinzips einen materiellen Verfassungsauftrag erfüllt. Unter diesen Umständen ist es schon erstaunlich, dass das Gebiet der Rechtsantragshilfe in Forschung und Praxis lange Zeit nicht die Beachtung gefunden hat, die ihm eigentlich gebührt.

Aus diesem Grunde hat die Fachhochschule für Rechtspflege Nordrhein-Westfalen in Bad Münstereifel im Rahmen eines Forschungsprojekts "Rechtsantragstellenanalyse" in den Jahren 1989 bis 1992 Organisation und Tätigkeit der Rechtsantragstellen in Nordrhein-Westfalen untersucht und umfangreiches Datenmaterial zusammengetragen, das ein recht genaues Bild von der gegenwärtigen Lage der Rechtsantragshilfe zeichnet.

Besonders beeindrucken die Gesamtzahlen der Rechtsantrags- und Beratungshilfesachen: Der landesweite Geschäftsanfall lag im Jahre 1989 bei rund 260.000 Sachen. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Berührungshäufigkeit von 16,4 Geschäften pro 1.000 Einwohner. Anders ausgedrückt: jeder 60. Bürger in Nordrhein-Westfalen hat in irgendeiner Form die Hilfe einer Rechtsantragstelle in Anspruch genommen.

Neben der statistischen Häufigkeitserhebung wurde auch eine Individualerhebung vorgenommen, die das sachliche und persönliche Umfeld der Tätigkeit eines Rechtspflegers auf einer Rechtsantragstelle beleuchten sollte. Es hat sich gezeigt, dass die Verhältnisse dort teilweise recht unbefriedigend sind.

Die Mängelliste reicht von unzureichender Ausschilderung und fehlenden Warteräumen über ungünstige Geschäftszeiten bis hin zu einer für den Rechtsuchenden manchmal unüberschaubaren Zersplitterung von Zuständigkeiten und Räumlichkeiten.

Interessant ist vor allem die subjektive Selbsteinschätzung der Rechtspfleger: immerhin 75% verneinten die Frage, ob sie sich für die Aufgaben der Rechtsantragstelle genügend vorbereitet und geeignet fühlen. Dies liegt sicherlich nicht an der Ausbildung der Beamten des gehobenen Justizdienstes, die im Rahmen eines dreijährigen Studiums eine 18monatige intensive fachtheoretische und ebenso lange fachpraktische Vorbereitung auf ihren späteren Beruf erfahren. Dieses juristische Studium wird allgemein auf qualitativ besonders hohem Niveau eingestuft, weswegen diplomierte Rechtspfleger auch in anderen Bereichen innerhalb wie außerhalb des öffentlichen Dienstes gefragt sind. Die subjektive überforderung rührt vielmehr daher, dass fast ausschließlich junge Berufsanfänger auf den Rechtsantragstellen Nordrhein-Westfalens eingesetzt werden. Bei rund einem Drittel der Befragten fehle es - nach eigenen Einschätzungen - oftmals an der notwendigen Berufs- und Lebenserfahrung, die Aufgaben der Rechtsantragstelle auch persönlich-menschlich immer kompetent auszufüllen.

Mit der Veröffentlichung der Studie hat die Fachhochschule zugleich Reformvorschläge unterbreitet, die den genannten Problemen gezielt begegnen sollten. Hierzu gehörte unter anderem die Forderung nach einer integrierten Rechtsantragstelle, bei der die verschiedensten Antragsgeschäfte an einer Stelle konzentriert werden, sozusagen als "Service-Point" für den Bürger. Ganz besondere Bedeutung wurde der EDV-Unterstützung der Rechtsantragstelle beigemessen. Vorgeschlagen wurde hier die Entwicklung eines Formular- und Informationssystems.

Dies war 1993/1994 dann auch die Geburtsstunde des Projekts "RASYS": Mit Unterstützung des Justizministeriums und den beteiligten Oberlandesgerichten wurden an den Amtsgerichten Langenfeld, Siegburg und Soest Muster-Rechtsantragstellen eingerichtet, bei denen die Reformvorschläge der Fachhochschule in die Praxis umgesetzt und erprobt wurden.

Zentrale Aufgabe der Projektgerichte war hierbei auch die Suche nach der geeigneten EDV-Unterstützung für den Rechtspfleger. Ein grundlegendes Konzept für die Softwareentwicklung war schnell gefunden: es sollte eine Art elektronische Vorstückmappe sein, die alle wichtigen Anträge und Formulare für die Rechtsantragstelle "auf einen Mausklick" bereithält.

Zusammen mit einem programmiererfahrenen EDV-Dozenten der Fachhochschule haben die Projektrechtspfleger einen Software-Prototypen entwickelt, der in zahlreichen Workshops immer konkretere Formen annahm, bis daraus schließlich das "Interaktive Formularsystem RASYS" wurde, ein Windows-Programm für PCs mit rund 60 Formularen für die Rechtsantragstelle.

Interaktiv ist RASYS gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen wird der Anwender über Dialogfenster sukzessiv nach den für einen Antrag relevanten Informationen gefragt, wobei ihm zahlreiche Eingabehilfen wie Textbausteine, Auswahllisten und Beispielformulierungen angeboten werden. Zum anderen findet - nach der Interaktion zwischen Anwender und PC - eine Aktion zwischen RASYS und der Textverarbeitung Word für Windows statt, nämlich die übertragung der eingegebenen Daten in einen formal korrekten und ansprechend gestalteten Schriftsatz. Der Anwender kann sich also voll und ganz auf die wichtigen Inhalte konzentrieren, während sich die Software um die bekanntermaßen oft zeitaufwendigen und von der eigentlichen Sache ablenkenden Formatierungen kümmert.

Nicht nur am gefälligen Textergebnis hat sich gezeigt, dass RASYS mehr ist als bloß das elektronische Pendant zu den konventionellen Papierformularen. Gerade die auf Rechtsantragstellen tätigen Berufsanfänger wissen den Fundus an juristisch ausgereiften elektronischen Formularen zu schätzen, helfen sie doch über so manche Formulierungsklippe hinweg und erinnern auch in so manchem Dialogfenster an ein wichtiges Detail.

Nach fast dreijähriger Entwicklung und Erprobung im Gerichtsalltag wurde RASYS 1997 vom Justizministerium Nordrhein-Westfalen für den landesweiten Einsatz freigegeben. Inzwischen wird RASYS an nahezu allen Amtsgerichten des Landes eingesetzt.

Informationsveranstaltungen an der Fachhochschule und auf dem EDV-Gerichtstag in Saarbrücken haben inzwischen ein bundesweites Interesse an RASYS geweckt. So überlegen derzeit auch die Justizverwaltungen in Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, RASYS einzuführen.

Die Fachhochschule für Rechtspflege in Bad Münstereifel setzt auf eine dynamische Weiterentwicklung der Software. In Ergänzung zum bestehenden Formularsystem befindet sich ein Rechtsinformationssystem, kurz RIS genannt, in Arbeit, dessen von Online-Hilfen unter Windows her bekannte Hypertext-Struktur dem Anwender eine weitere effektive Informationsdimension bereitstellen soll. Auch das Interaktive Formularsystem RASYS ist keine statische, sondern eine sehr lebendige Software. So erlaubt ein komfortabler "Formularassistent" das Umgestalten vorhandener und Hinzufügen neuer elektronischer Formulare und damit die Anpassung an die individuellen Bedürfnisse eines jeden Anwenders. Auf diese Weise konnten in wenigen Tagen mit Rechtspflegern des Amtsgerichts Köln mehr als 20 Formulare neu entwickelt und optimiert werden.

Wenn eine moderne EDV-Unterstützung der Aufgaben der Rechtsantragshilfe auch nicht Berufs- und Lebenserfahrung ersetzen kann, so trägt sie doch in nicht unerheblichem Maße zu einer qualitativen Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf den Rechtsantragstellen bei. Und eine solche Verbesserung kommt schließlich dem Bürger zugute.

Nur am Rande bemerkt - das Projekt "RASYS" hat einen ganz positiven und völlig untechnischen Nebeneffekt gehabt: es hat die Rechtsantragstelle wieder in das Bewusstsein von Justizverwaltung und öffentlichkeit gerückt und deutlich werden lassen, was sie wirklich ist: eine sensible Schnittstelle zwischen Bürger und Justiz.

 

Angaben zum Autor des Artikels:
Dipl.-Rechtspfleger Andreas Dormann ist Dozent an der Fachhochschule für Rechtspflege Nordrhein-Westfalen. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er verantwortlicher Leiter der IT-Projekte "RASYS" und "IT-ZVG". Letzteres befasst sich mit den Möglichkeiten der informationstechnischen Unterstützung von Zwangsversteigerungsverfahren. Als Autodidakt in Sachen Programmierung entwickelt er neben RASYS auch Software für Rechtsanwälte.