Staats- und Verfassungsrecht (1996)
LEISTUNGSTEST
Aktualisierte Volltextversion aus Rechtspfleger-Studienhefte 1996, 181

 

Aufgabe: Die nachfolgenden 16 Fragen/Aufgaben sind in beliebiger Reihenfolge kurz zu beantworten/zu lösen.
Bearbeitungszeit: 1,5 Zeitstunden (90 Minuten)
Hilfsmittel: Schönfelder, Deutsche Gesetze

1.) Erläutern Sie den Begriff des Staatsvolkes innerhalb der sogenannten 3-Elementen Lehre ! Wo kommt dieser Begriff im Grundgesetz vor ?

2.) Welche Prinzipien kennen Sie für den Erwerb einer Staatsangehörigkeit ? Beschreiben Sie kurz die von Ihnen genannten Prinzipien ! Welches Prinzip gilt in der Bundesrepublik Deutschland ?

3.) Was verstehen Sie unter einer/einem Deutschen im Sinne des Grundgesetzes ? Nennen Sie zwei Beispiele, in denen es auf diese Eigenschaft ankommt !

4.) Was besagt das Staatsformmerkmal "Republik" in Art. 20 I GG bzw. "republikanisch" in Art. 28 I 1 GG ?

5.) Beschreiben Sie das sogenannte "Parteienprivileg" ! Wo ist dieses Privileg im Grundgesetz geregelt ?

6.) Rechtspflegeranwärter R kann sich den vom ihm gewünschten gehobenen Lebensstil (Villa im Tessin, Skiurlaub in St. Moritz, Steinway-Imperial, ....) aufgrund seiner Anwärterbezüge nicht leisten. Er verlangt von seinem Dienstherrn eine deutliche Erhöhung seiner Anwärterbezüge und beruft sich dabei auf das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Was wird der Dienstherr dem R antworten ? Begründen Sie die Antwort !

7.) Leiten Sie aus dem Grundgesetz das Prinzip der Gewaltenteilung ab und beschreiben Sie dieses Prinzip !

8.) Wie regelt das Grundgesetz die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben im Verhältnis Bund-Länder ? Beschreiben Sie kurz das Ausnahme- und Regelverhältnis !

9.) Legen Sie mit wenigen Worten dar, was Sie über das Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten (Bundestreue) wissen !

10.) Wie lassen sich die Funktionen/Aufgaben des Bundestages systematisieren ? 3 Bereiche.

11.) Nennen Sie 3 der 6 (Unter)organe des Bundestages !

12.) An welcher Stelle beschreibt das Grundgesetz die Grundsätze, die für eine Wahl zum Bundestag gelten ? Stellen sie kurz den Inhalt eines jeden dieser Wahlgrundsätze dar !

13.) Bundespräsident H weilt im Rahmen eines offiziellen Staatsbesuchs für 2 Wochen in Myanmar (früher: Birma). Wer vertritt H während dieser Zeit ?

14.) Die Bundesregierung, die im Bundestag eine parlamentarische Mehrheit von 341 von insgesamt 672 Stimmen hat, plant die Herbeiführung eines sogenannten "Sparpakets", das aus vier Einspruchsgesetzen besteht. Die Oppositionsparteien verfügen im Bundestag nur über 331 von 672 Stimmen, haben aber im Bundesrat eine einfache Mehrheit. Beschreiben Sie, was die Oppositionsparteien zur Verhinderung und was die Regierungsparteien zur letztendlichen Durchsetzung des Sparpakets tun können bzw. tun müssen.

15.) Der Kläger/Gläubiger hat gegen den Beklagten/Schuldner ein rechtskräftiges Endurteil auf Räumung von Wohnraum erstritten. Einen Tag vor dem Räumungstermin stellt die Rechtspflegerin des Vollstreckungsgerichts die Zwangsvollstreckung aus diesem Urteil auf Antrag des Schuldners einstweilen ein. Sie begründet ihren Einstellungsbeschluss mit § 765 a I 1 ZPO. Der Gläubiger ist der Meinung, § 765 a I 1 ZPO verletze sein Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 GG und sei deshalb verfassungswidrig. Der Gläubiger möchte seine Meinung erforderlichenfalls vom Bundesverfassungsgericht bestätigt haben. Was muss er tun, damit sich das Bundesverfassungsgericht mit seiner Meinung beschäftigt ?

16.) Antonia Gräfin von Lodron fällt bei einer Kontrolle im Straßenverkehr dadurch auf, dass sie mit ihrem Maserati Schlangenlinien fährt. Als in Antonia´s Atemluft Alkoholgeruch festgestellt wird, ordnet der anwesende Staatsanwalt aufgrund des § 81 a StPO an, dass der Antonia von einem Arzt eine Blutprobe entnommen wird. Antonia fragt ihren Beifahrer, den Rechtspflegeranwärter R, ob die Anordnung des Staatsanwalts mit ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sei. Versetzen Sie sich in die Rolle des R und antworten Sie der Antonia !

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Lösungsvorschlag zum Leistungstest im Staats- und Verfassungsrecht

1.) Unter dem Staatsvolk versteht man die natürlichen Personen, zwischen denen und dem Staat eine besondere Verbindung aus Rechten und Pflichten besteht, also die Gesamtheit der Staatsangehörigen. Der Begriff des Staatsvolkes kommt im Grundgesetz vor - in der Präambel - in Art. 20 II - in Art. 38 I 2 - in Art. 146.

2.) Für den Erwerb einer Staatsangehörigkeit haben sich international zwei Systeme herausgebildet, nämlich - das Abstammungsprinzip (ius sanguinis = Blutsrecht) - das Territorialprinzip (ius soli = Bodenrecht). Nach dem Abstammungsprinzip erwirbt man unabhängig von seinem Geburtsort die Staatsangehörigkeit seiner Eltern. Nach dem Territorialprinzip erwirbt man unabhängig von der Staatsangehörigkeit seiner Eltern die Staatsangehörigkeit des Staates, auf dessen Staatsgebiet man geboren ist. In der Bundesrepublik Deutschland gilt grundsätzlich das Abstammungsprinzip. Allerdings gibt es seit dem 01. Januar 2000 in der Bundesrepublik Deutschland auch Elemente des Territorialprinzips.

3.) Der Begriff des "Deutschen im Sinne des Grundgesetzes" ist in Art. 116 I GG geregelt. Danach ist Deutscher im Sinne des Grundgesetzes nicht nur ein deutscher Staatsangehöriger, sondern auch ein sogenannter "Statusdeutscher", also eine Person deutscher Volkszugehörigkeit, die im Gebiet des früheren Deutschen Reiches (Stand vom 31. Dezember 1937) als Flüchtling oder Vertriebener Aufnahme gefunden hat. Auf diese Eigenschaft kommt es zum Beispiel an - bei den (Bürger)grundrechten (Art. 8 I; 9 I; 11 I; 12 I und 16 II GG) - für die Berufung in das Richterverhältnis (§ 9 Nr. 1 DRiG).

4.) Das Staatsformmerkmal "Republik" in Art. 20 I GG bzw. "republikanisch" in Art. 28 I 1 GG besagt zweierlei, nämlich - Berufung des Staatsoberhauptes durch Wahl - Berufung des Staatsoberhauptes nur auf Zeit.

5.) Nach dem sogenannten "Parteienprivileg" hat über die Verfassungswidrigkeit einer Partei nicht die Regierung (2. Gewalt) zu entscheiden, sondern nur das Bundesverfassungsgericht. Dieses Privileg ist im Grundgesetz in Art. 21 II 2 geregelt.

6.) Der Dienstherr wird dem R antworten, dass eine Erhöhung der Anwärterbezüge aufgrund des Sozialstaatsprinzips nicht in Betracht kommt. Er wird seine Antwort damit begründen, dass - das Sozialstaatsprinzip erst durch die einfachen Gesetze konkretisiert werden muss und daher allein grundsätzlich noch keine Anspruchsgrundlage gegen den Staat darstellt - eine Ausnahme nur dann gegeben ist, wenn ohne die Gewährung des Anspruchs die Menschenwürde des R verletzt wäre - eine Verletzung der Menschenwürde des R nicht deshalb vorliegt, weil R nicht - - in einer Villa im Tessin wohnen - - in St. Moritz Skiurlauben - - auf einem Steinway-Imperial spielen kann.

7.) Das Prinzip der Gewaltenteilung kommt im Grundgesetz unter anderem in den Art. 1 III, 20 II 2, 20 III und 20a zum Ausdruck. Es besagt, dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt der Ausübung nach dreigespalten ist in - die Gesetzgebung = Legislative (1. Staatsgewalt) - die vollziehende Gewalt = Exekutive (2. Staatsgewalt) - die Rechtsprechung = Judikative (3. Staatsgewalt).

8.) Gemäß Art. 30 GG ist die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Der Bund hat also nur ausnahmsweise staatliche Kompetenzen. Regelmäßig liegen diese bei den Ländern.

9.) Das Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten (Bundestreue) ist eine Konsequenz aus dem Bundesstaatsprinzip des Art. 20 I GG. Es ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz niedergeschrieben, stellt aber einen ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von hoher Bedeutung dar. Es verpflichtet Bund und Länder zu einem Zusammenwirken, um die bundesstaatliche Ordnung zu erhalten und zu fördern. Das Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten (Bundestreue) kann sowohl die Länder gegenüber dem Bund wie den Bund gegenüber den Ländern verpflichten. Hieraus ergeben sich Hilfs- und Mitwirkungspflichten, Pflichten zur Rücksichtnahme, zu Verhandlungen mit dem Ziel einer Verständigung, vor allem das Verbot missbräuchlicher Kompetenzausübung.

10.) Die Funktionen/Aufgaben des Bundestages lassen sich in folgende 3 Bereiche systematisieren:

- Gesetzgebungsfunktion

- Wahlfunktion

- Kontrollfunktion.

11.) Von den folgenden 6 (Unter)organen des Bundestag müssen 3 genannt werden:

- Plenum

- Fraktionen

- Ausschüsse

- Präsidium

- ältestenrat

- Schriftführer.

12.) Das Grundgesetz beschreibt die Grundsätze, die für eine Wahl zum Bundestag gelten in seinem Art. 38 I 1.

- Allgemeinheit: Das aktive Wahlrecht (wählen) und das passive Wahlrecht (gewählt werden) muss allen Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise offenstehen.

- Unmittelbarkeit: Zwischen der Stimmabgabe des Wählers und der Ermittlung der gewählten Abgeordneten darf keine weitere Instanz mit Entscheidungsbefugnissen eingeschaltet werden.

- Freiheit: Es darf kein öffentlicher oder privater Zwang auf den Entschluss zur Wahlbeteiligung und auf den Inhalt der Wahlentscheidung ausgeübt werden.

- Gleichheit: Jede Stimme muss den gleichen Erfolgswert haben.

- Geheimheit: Es darf nicht festgestellt werden können, wie der einzelne Wähler abgestimmt hat.

13.) Gemäß Art. 57 GG vertritt der Präsident des Bundesrates den H.

14.) Nachdem der Bundestag die vier Gesetze gemäß Art. 77 I 1 GG mit jeweils einfacher Stimmenmehrheit (Art. 42 II 1 GG ) beschlossen hat, kann der Bundesrat mit der Mehrheit seiner Stimmen (Art. 52 III 1 GG) gemäß Art. 77 II 1 GG den Vermittlungsausschuss anrufen. Nach Durchführung des Vermittlungsverfahrens kann der Bundesrat nunmehr mit der Mehrheit seiner Stimmen (Art. 52 III 1 GG) gemäß Art. 77 III 1 Einspruch gegen jedes der vier Gesetze einlegen. Der Bundestag hat gemäß Art. 77 IV 1 GG jetzt die Möglichkeit, durch Beschluss der Mehrheit seiner Mitglieder (Art. 121) - also mit mindestens 337 Stimmen (sogenannte "Kanzlermehrheit") - diesen Einspruch zurückzuweisen. Gemäß Art. 78 - letzte Alt. GG sind dann die vier Gesetze jeweils zustande gekommen.

15.) Der Gläubiger kann sein Anliegen mit Hilfe einer Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG zum Bundesverfassungsgericht bringen. Dazu muss er jedoch zunächst den gesamten Rechtsweg ausschöpfen (vgl. Art. 94 II 2 GG), also - sofortige Beschwerde (§ 793 I ZPO; 11 I RPflG) zum Landgericht - sodann sofortige weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht (§ 793 II ZPO).

Der Gläubiger kann auch versuchen, die Richter der Beschwerdekammer oder des weiteren Beschwerdesenats von der Verfassungswidrigkeit des § 765a I 1 ZPO zu überzeugen und zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 I GG (konkretes Normkontrollverfahren) zu veranlassen.

16.) Wenn der Antonia eine Blutprobe entnommen wird, so stellt dies einen Eingriff in ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 - 2. Alt. GG) dar. Dieser Eingriff könnte jedoch durch Art. 2 II 3 GG i.V.m. § 81a StPO gerechtfertigt sein. Die Voraussetzungen des § 81a StPO liegen vor. Der § 81a StPO müsste jedoch den Anforderungen des Art. 19 I und II GG genügen. Er stellt kein Einzelfallgesetz dar, Art. 19 I 1 GG. Das Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG) gilt ausnahmsweise nicht, da es sich bei der StPO um vorkonstitutionelles Recht handelt.

Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit wird durch § 81a StPO auch nicht in seinem Wesensgehalt angetastet, Art. 19 II GG. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht ersichtlich.

Damit ist die Anordnung des Staatsanwalts mit dem Grundrecht der Antonia auf körperliche Unversehrtheit vereinbar.

 

Diplom-Rechtspfleger Holger Schweda; Richter am Landgericht Köln; zur Zeit Dozent an der Fachhochschule für Rechtspflege Nordrhein-Westfalen, Bad Münstereifel