Staats- und Verfassungsrecht (1997)
Leistungstest
Aktualisierte Volltextversion aus Rechtspfleger-Studienhefte 1997, 179

Aufgabe: Die nachfolgenden 7 Fragen / Aufgaben sind in beliebiger Reihenfolge zu beantworten / zu lösen.
Bearbeitungszeit: 1,5 Zeitstunden ( 90 Minuten ).
Hilfsmittel: Schönfelder, Deutsche Gesetze Beck´sche rote Textausgabe Grundgesetz (freigestellt).

1) Inwieweit sind die Bestimmungen des Grundgesetzes abänderbar? Welche parlamentarischen Staatsorgane müssen mit welchen Mehrheiten an einer änderung des Grundgesetzes mitwirken?

2) Das Bundesland S steckt in einer aussichtslosen finanziellen Krise. Die Ministerpräsidentin von S, die sich demnächst Landtagswahlen stellen muss, kündigt über die Massenmedien publikumswirksam an, ihr Bundesland werde allen Landes- und Kommunalbeamten und allen Landesrichtern die jährliche Sonderzuwendung (soge-nanntes "Weihnachtsgeld") ersatzlos streichen. Erläutern Sie, ob und gegebenenfalls - auch hilfsweise - wie dies aus verfassungsrechtlicher Sicht möglich wäre.

3) An welcher Stelle weist das Grundgesetz bei der 1. Staatsgewalt eine Durchbrechung des Grundsatzes auf, dass generell-abstrakte Rechtsregeln von den Organen der 1. Staatsgewalt zu erlassen sind? Nennen Sie ein für den Rechtspfleger wichtiges Beispiel eines generell-abstrakten Regelungswerkes, das nicht von den Organen der 1. Staatsgewalt erlassen wurde!

4) Die Kreisstraße K 38 verbindet im Kreis Euskirchen die Ortschaften Satzvey und Obergartzem in der Stadt Mechernich miteinander. N hat einen im Grundbuch ordnungsgemäß eingetragenen Nießbrauch an einem der Grundstücke, die an die K 38 angrenzen. Dieses Grundstück ist nur über die K 38 zu erreichen und eignet sich ausschließlich für den Anbau von Zuckerrüben, den N neben seiner normalen Berufstätigkeit betreibt. Der Oberkreisdirektor des Kreises Euskirchen stellt per Verwaltungsakt als zuständige Straßenverkehrsbehörde durch sein Straßenverkehrsamt an beiden Enden der K 38 das Verkehrszeichen 250 zu § 41 II Nr. 6 StVO ohne Zusatzschild auf und ordnet in demselben Verwaltungsakt an, dass Ausnahmegenehmigungen gemäß § 46 I 1 Nr. 11 StVO in keinem Falle erteilt werden. N macht wahrheitsgemäß geltend, der Zuckerrübenanbau sei ihm nur dann möglich, wenn er mit Traktoren und Erntefahrzeugen über die K 38 zu dem Grundstück fahren dürfe. Durch die Maßnahme des Oberkreisdirektors sei das Grundstück für ihn als Nießbraucher unbedeutend geworden. N meint, er sei durch die Maßnahme in seinen Grundrechten verletzt. Untersuchen Sie, ob möglicherweise ein Grundrecht des N verletzt sein könnte, d.h., ob der Anwendungsbereich eines Grundrechts eröffnet ist. Ob ein Grundrecht auch tatsächlich verletzt ist, braucht nicht untersucht zu werden.

5) Unterstellen Sie als Fortsetzung zur Aufgabe 4), dass N wirklich in einem seiner Grundrechte verletzt ist. Wie könnte es N erreichen, dass sich erforderlichenfalls das Bundesverfassungsgericht mit dieser Grundrechtsverletzung befasst ?

6) In der letzten Bundesversammlung hat sich überraschenderweise eine knappe Mehrheit für die Kandidatin P ergeben, so dass diese zur Bundespräsidentin gewählt wurde. Der Bundeskanzlerin K passt dies überhaupt nicht in ihr politisches Konzept. K meint nämlich, die P habe - ganz im Gegensatz zu ihr - gegenüber den Männern einen "zu weichen Biss". Mit der P könne sie daher ihre Politik, zu deren Richtlinienbestimmung sie ja gemäß Art. 65 Satz 1 GG befugt sei, nicht durchführen. Forderungen der K auf freiwilligen Rücktritt lehnt die P empört ab. Die Bundeskanzlerin fragt die Bundesministerin der Justiz, wie sie die Bundespräsidentin auch gegen deren Willen aus dem Amt bekommen kann. Versetzen Sie sich in die Rolle der Bundesministerin der Justiz und antworten Sie der Bundeskanzlerin!

7) Der Tour de France-Aspirant T wird auf der Ostseeinsel Usedom von der mecklenburg-vorpommerschen Polizei gestellt, als er mit seinem Rennrad innerhalb einer geschlossenen Ortschaft 81 km/h fährt. Die zuständige Verwaltungsbehörde setzt daraufhin gemäß §§ 24 StVG; 49 I Nr. 3 StVO wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen § 3 III Nr. 1 StVO eine Geldbuße gegen T in Höhe von 250,00 DM fest. T legt gegen den Bußgeldbescheid Einspruch ein und trägt vor, der Bußgeldbescheid verstoße gegen das Grundgesetz. Der § 3 III Nr. 1 StVO verbiete nämlich nur Kraftfahrzeugen innerhalb geschlossener Ortschaften schneller als 50 km/h zu fahren. Sein Rennrad sei aber kein Kraftfahrzeug im Sinne des § 3 III Nr. 1 StVO, wie der § 1 II StVG belege. Die Verwaltungsbehörde übersendet die Akten gemäß § 69 III 1 OWiG an die Staatsanwaltschaft. Dort wird der Vorgang der Oberamtsanwältin O zur Bearbeitung vorgelegt. Beleuchten Sie, ob der T bei der O mit seinem Vortrag durchdringen wird !

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Lösungsvorschlag zum Leistungstest im Staats- und Verfassungsrecht

1) Inwieweit die Bestimmungen des Grundgesetzes abänderbar sind, ergibt sich aus Art. 79 III GG. Die in dieser Vorschrift aufgeführten Regelungen sind unabänderbar. Entsprechend seinem Sinn (sogenannte "Ewigkeitsklausel") ist auch der Art. 79 III GG selbst nicht abänderbar. Ein Gesetz zur änderung des Grundgesetzes bedarf gemäß Art. 79 II GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages - also nach Art. 121 GG der Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl - und von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.

2) Zunächst ist zu prüfen, ob eine ersatzlose Streichung der jährlichen Sonderzuwendung (sogenanntes "Weihnachtsgeld") verfassungsrechtlich überhaupt möglich wäre. Bedenken könnten im Hinblick auf Art. 33 V GG bestehen. An dieser Stelle kann von den Studierenden keine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage erwartet werden, ob das Weihnachtsgeld zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zählt. Entscheidend ist nur, dass die Studierenden erkennen, dass eine ersatzlose Streichung des Weihnachtsgeldes im Hinblick auf Art. 33 V GG problematisch sein könnte. Nach h.M. schützt Art. 33 V GG nicht das Weihnachtsgeld (vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 4. Auflage 1997, Art. 33 Rdnr. 19), so dass die ersatzlose Streichung desselben verfassungsrechtlich möglich wäre. Fraglich ist allerdings, ob das Bundesland S die Befugnis hat, das Weihnachtsgeld für alle Landes- und Kommunalbeamten und alle Landesrichter ersatzlos zu streichen. Gemäß Art. 74a I GG erstreckt sich nämlich die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes auf die Besoldung und Versorgung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, soweit dem Bund nicht schon nach Art. 73 Nr. 8 GG die ausschließliche Gesetzgebung zusteht. Art. 73 Nr. 8 GG betrifft nur die Bundesbediensteten, ist also für die Landesbediensteten nicht einschlägig. Damit hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebung für die Besoldung der Landes- und Kommunalbeamten. Art. 74a IV GG erklärt die Absätze 1 und 2 des Art. 74a GG für die Besoldung der Landesrichter für entsprechend anwendbar. Es kann davon ausgegangen werden, dass im Bereich "Besoldung der Landes- und Kommunalbeamten und der Landesrichter" eine bundesgesetzliche Regelung im Sinne des Art. 72 II GG erforderlich ist, so dass der Bund für diesen Bereich das Gesetzgebungsrecht hat. Der Bund hat von diesem Gesetzgebungsrecht durch Erlass des Bundesbesoldungsgesetzes auch Gebrauch gemacht, in welchem die Gewährung des Weihnachtsgeldes geregelt ist (vgl. § 67 BBesG). Damit ist das Bundesland S gemäß Art. 72 I GG von einer Gesetzgebungsbefugnis in Bezug auf das Weihnachtsgeld ausgeschlossen. Die Landes- und Kommunalbeamten und die Landesrichter in S können also die publikumswirksamen Ankündigungen der Ministerpräsidentin von S zunächst mit einem spöttischen Lächeln betrachten. Allerdings könnte das Bundesland S versuchen, über den Bundesrat eine Gesetzesvorlage zu einer änderung des Bundesbesoldungsgesetzes in Bezug auf das Weihnachtsgeld zu initiieren (Art. 76 I - 3. Alt. GG). Der Bundesrat müßte diese Gesetzesvorlage gemäß Art. 52 III 1 GG mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen beschließen. Er würde dann das Gesetzgebungsverfahren für ein Bundesgesetz in Gang setzen. Sollte der Bundestag gemäß Art. 77 I 1 GG eine entsprechende änderung des Bundesbesoldungsgesetzes beschließen, müsste der Bundesrat gemäß Art. 74a II und IV GG diesem änderungsgesetz zustimmen.

3) Gemäß Art. 80 I 1 GG können durch (Bundes)gesetz die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen - also Organe der 2. Staatsgewalt - ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Ein für den Rechtspfleger wichtiges Beispiel einer solchen Rechtsverordnung stellt die aufgrund des § 55a VII BGB erlassene Verordnung über das Vereinsregister und andere Fragen des Registerrechts vom 10. Februar 1999 (BGBl. I S. 147) dar, denn gemäß § 3 Nr. 1a RPflG ist der Rechtspfleger für die Eintragungen im Vereinsregister funktionell zuständig.

4) Es kommt eine mögliche Verletzung des Grundrechts des N aus Art. 14 I 1 GG in Betracht. Danach wird unter anderem das Eigentum gewährleistet. Fraglich ist, was unter "Eigentum" im Sinne des Art. 14 I 1 GG zu verstehen ist. Der Begriff des "Eigentums" im Sinne dieser Vorschrift ist umfassender als das Eigentum im sachenrechtlichen Sinne. Eigentum im Sinne des Art. 14 I 1 GG ist zunächst jede privatrechtliche vermögenswerte Rechtsposition. Damit fällt auch der Nießbrauch des N als beschränktes dingliches Recht in den Anwendungsbereich des Art. 14 I 1 GG, so dass N möglicherweise in diesem Grundrecht verletzt sein könnte.

5) Der Nießbraucher N kann sein Anliegen mit Hilfe einer Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG zum Bundesverfassungsgericht bringen. Dazu muss er jedoch zunächst den gesamten Rechtsweg ausschöpfen (vgl. Art. 94 II 2 GG), also - Widerspruch gegen den Verwaltungsakt des Oberkreisdirektors des Kreises Euskirchen - und sodann Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht unter Ausnutzung aller statthaften Rechtsmittel erheben.

6) Anders als bei der Bundeskanzlerin sieht das Grundgesetz kein konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 I 1 GG) gegen die Bundespräsidentin vor. Eine einmal gewählte Bundespräsidentin kann gegen ihren Willen nur im Verfahren nach Art. 61 GG vom Bundesverfassungsgericht ihres Amtes für verlustig erklärt werden. Die Bundeskanzlerin kann die Bundespräsidentin also gegen deren Willen nur dann aus dem Amt bekommen, wenn diese vorsätzlich das Grundgesetz oder ein anderes Bundesgesetz verletzt und daraufhin vom Bundestag oder vom Bundesrat eine Anklage der Bundespräsidentin vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben wird.

7) Die Oberamtsanwältin O wird prüfen, ob der Bußgeldbescheid gegen das Grundgesetz verstößt. Es könnte eine Verletzung des Art. 103 II GG vorliegen. Fraglich ist zunächst, ob der Art. 103 II GG mit seiner Formulierung (.....bestraft werden, wenn die Strafbarkeit.....) auch das Ordnungswidrigkeitsrecht erfasst und nicht nur das Kriminalstrafrecht. Der Begriff "Strafbarkeit" im Art. 103 II GG bedeutet jede missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten. Art. 103 II GG erfasst damit auch das Ordnungswidrigkeitsrecht, vgl. BVerfGE 87, 399 (411) m.w.N. . Nach dem im Art. 103 II GG enthaltenen Analogieverbot ist jede Rechtsanwendung ausgeschlossen, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. § 3 III Nr. 1 StVO verbietet nur Kraftfahrzeugen innerhalb geschlossener Ortschaften schneller als 50 km/h zu fahren. Wie sich aus der Definition des § 1 II des Straßenverkehrsgesetzes - auf welchem die StVO ja beruht - ergibt, fällt ein Fahrrad nicht unter den Begriff des Kraftfahrzeugs. Zwar wird es mit Kraft angetrieben, doch stammt diese nicht von einer Maschine. Für Fahrräder gilt demnach die 50 km/h-Grenze nicht, so dass T nicht mit einer Geldbuße belegt werden durfte. Also wird er bei der O mit seinem Vortrag durchdringen. Wahrscheinlich ist der Verordnungsgeber des § 3 III Nr. 1 StVO gar nicht auf die Idee gekommen, man könne mit einem Fahrrad schneller als 50 km/h fahren und ist inzwischen nur von den Fahrradtechnikern "überholt" worden.

Diplom-Rechtspfleger Holger Schweda, Köln; Richter am Landgericht Köln; zur Zeit Dozent an der Fachhochschule für Rechtspflege Nordrhein-Westfalen, Bad Münstereifel